Einem altersgerecht entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist.
Ein achtjähriges Kind, welches sich in Begleitung seiner in Rufweite gehenden Eltern befand, richtete während der Fahrt mit dem Fahrrad den Blick nach hinten und verließ seine Fahrspur. Dadurch stürzte eine Fußgängerin und verletzte sich. Das Gericht hatte sich insoweit mit den gegen das Kind und deren Eltern geltend gemachten Schadensersatzansprüchen zu befassen.
Die Klägerin verlangt von der minderjährigen Beklagten und ihren Eltern Schadensersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung für künftige Schäden aus einem Unfall, der sich 2016 in Italien ereignet hatte. Die Klägerin war am Unfalltag als Fußgängerin auf der Promenade des Gardasees mit der Zeugin W. unterwegs. Die achtjährige Beklagte fuhr dort mit ihrem Fahrrad in entgegengesetzter Richtung. Während der Vorwärtsfahrt drehte sie sich zu ihren Eltern um, die einige Meter hinter ihr in Sicht- und Rufweite folgten und dabei ihre mitgeführten Fahrräder schoben. Dabei verlor die Beklagte unbemerkt ihre Fahrspur und näherte sich der stehenden Klägerin und der Zeugin W. Als die Eltern den Kursverlust ihrer Tochter bemerkten, versuchte die Mutter noch, ihre Tochter zu warnen, die eine Vollbremsung einleitete. Die Klägerin geriet indes ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und stürzte von der Uferpromenade auf einen ca. einen Meter darunterliegenden Betonsteg und von dort aus ins Hafenbecken. Die Zeugin W., die schräg versetzt vor der Klägerin stand, konnte noch ausweichen. Die Klägerin erlitt eine Sprunggelenkfraktur mit Syndesmosensprengung, eine Delta-Band-Ruptur, eine Kapselruptur und ausgeprägte Hämatombildung sowie einen Ausriss der Peronealsehnenscheide und Hautabschürfungen. Sie wurde zunächst in ein Krankenhaus in Italien gebracht, sie entschied sich jedoch zu einer Operation in M., wo sie sich acht Tage in stationärer Behandlung in der S-Klinik befand. Es folgten Termine beim Hausarzt, Krankengymnastik und die Entfernung der eingesetzten Schrauben.
Das Landgericht hatte nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen.
Die Berufung der Klägerin ist teilweise begründet: Die Klägerin hat einen Anspruch auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden gegen die Beklagte. Soweit sich die Klage auch gegen die Eltern richtet, hat die Klägerin keinen Anspruch.
Nach Auffassung des OLG Celle ist vorliegend deutsches Recht anwendbar. Grundsätzlich sei bei Verkehrsunfällen das anzuwendende Recht nach der EU-Verordnung (EG) Nr. 864/2007 (Rom-II-VO) zu bestimmen. Zwar sei danach gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintrete (sog. Tatortprinzip). Das wäre vorliegend italienisches Recht. Gemäß der Ausnahmevorschrift des Art. 4 Abs. 2 Rom-II-VO sei aber das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes von Schädiger und Geschädigtem anwendbar, wenn beide aus demselben Staat kommen. Dies sei vorliegend der Fall.
Die Beklagte hafte gemäß den §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 3 BGB dem Grunde nach für die Schäden der Klägerin. Danach seien Minderjährige für die Schäden, die sie einem anderen zufügen, nur dann nicht verantwortlich, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht haben. Dabei verlange das Gesetz vom Kind nur die Fähigkeit zu einem allgemeinen Verständnis des Unrechtsgehaltes seines Verhaltens und der Pflicht, dafür einstehen zu müssen. Den konkreten Schaden müsse es sich nicht vorstellen können. Vielmehr genüge die Fähigkeit, zu erkennen, dass es in irgendeiner Weise für sein Verhalten zur Verantwortung gezogen werden könne (BGH, Urt. v. 20.01.1987 - VI ZR 182/85). Es bedürfe auch nicht der Prüfung, ob der Minderjährige fähig gewesen sei, seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu steuern, wie es für die strafrechtliche Deliktsfähigkeit erforderlich sei (§ 3 JGG). Nach der ständigen Rechtsprechung sei ein Minderjähriger, der imstande sei, die Verantwortlichkeit für sein Tun einzusehen, ohne Rücksicht auf seine Steuerungsfähigkeit deliktsfähig i.S.v. § 828 Abs. 3 BGB (st. Rspr. BGH, Urt. v. 10.03.1970 - VI ZR 182/68; BGH, Urt. v. 28.02.1984 - VI ZR 132/82 und BGH, Urt. v. 20.01.1987 - VI ZR 182/85). Gemessen daran habe die Beklagte den Sturz der Klägerin schuldhaft verursacht.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin gestürzt sei, weil die Beklagte mit ihrem Fahrrad auf sie zufuhr, während sie ihren Blick nach hinten gerichtet hatte. Dieses Verhalten veranlasste die Zeugin W. im letzten Augenblick zu einer Ausweichbewegung. Die Klägerin habe keine Ausweichmöglichkeit gehabt. Der Vater der Beklagten habe in seiner Anhörung bestätigt, dass sich seine Tochter auf dem Fahrrad fahrend zu ihm und seiner Frau umgedreht und dabei die Richtung verloren habe. Seine Frau habe bekundet, sie habe noch „Achtung“ gerufen, was aber bereits zu spät gewesen sei. Schließlich habe auch die Beklagte angegeben, sie habe sich zu ihren Eltern umgedreht. Als sie wieder nach vorne geschaut habe, sei sie bereits bei der Klägerin und der Zeugin W. gewesen und habe nur noch eine Vollbremsung einleiten können. Die Klägerin habe das Gleichgewicht verloren und sei von der Hafenpromenade gefallen. Diese Aussagen stimmten in entscheidenden Punkten überein und führten im Ergebnis zu einer Haftung der Beklagten.
Einer Berührung zwischen der Klägerin und der Beklagten bedürfe es dabei nicht, um den Sturz der Klägerin adäquat kausal auf das Fahrverhalten der Beklagten zurückzuführen. Eine Haftung komme auch dann in Betracht, wenn der Unfall nur mittelbar durch das Fahrverhalten der Beklagten verursacht worden sei. Das Fahrverhalten der Beklagten habe zu Ausweichbewegungen sowohl der Klägerin als auch der Zeugin W. geführt. Die Klägerin sei in Folge ihres Gleichgewichtsverlustes gestürzt und habe sich verletzt.
Die Beklagte habe bei dem schädigenden Verhalten auch die erforderliche Einsicht gehabt. Einem altersgerecht entwickelten achtjährigen Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr regelmäßig auch im Straßenverkehr Fahrrad fahre, müsse bewusst sein, dass es während der Fahrt nach vorne schauen und nicht über einen längeren Zeitraum nach hinten blicken dürfe. Es habe sich auch nicht um ein Augenblicksversagen gehandelt, sondern um eine Zeitspanne, während der der Vater der Beklagten nach eigener Aussage einen Richtungsverlust wahrnehmen konnte. Es hätte der Beklagten oblegen darzutun und ggf. zu beweisen, dass sie die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht nicht hatte (vgl. BGH, Urt. v. 29.04.1997 - VI ZR 110/96). Die Beklagte habe bereits nicht vorgetragen, dass es an der notwendigen Einsichtsfähigkeit gefehlt habe. Vielmehr sei auch nach der persönlichen Anhörung der Beklagten davon auszugehen, dass sie zum damaligen Zeitpunkt gewusst habe, dass es ein Fehler sei, während des Fahrradfahrens über einen längeren Zeitraum die Blickrichtung vom Fahrweg nach hinten abzuwenden.
Die Beklagte habe auch schuldhaft gemäß § 276 Abs. 2 BGB gehandelt. Der Begriff der Fahrlässigkeit sei zivilrechtlich nach objektiven und nicht nach individuellen Merkmalen zu bestimmen. Entscheidend sei, ob ein altersgerecht entwickeltes Kind im Alter der Beklagten hätte voraussehen können und müssen, dass die an den Tag gelegte Fahrweise Fußgänger verletzen konnte und ob von ihm bei Erkenntnis der Gefährlichkeit seines Handelns in der konkreten Situation die Fähigkeit erwartet werden konnte, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten, oder ob ein Mangel an Verstandesreife Kinder dieser Altersgruppe an einem solchen Verhalten hindere (vgl. BGH, Urt. v. 29.04.1997 - VI ZR 110/96 und BGH, Urt. v. 27.01.1970 - VI ZR 157/68). Gemessen an diesen Maßstäben müsse in der vorliegenden Unfallsituation einem Kind mit einem Alter und einer Entwicklungsstufe entsprechend der Beklagten bewusst sein, dass es gefahrträchtig sei, während einer Vorwärtsfahrt den Kopf rückwärtig zu halten. Anders als in den vom BGH beurteilten Konstellationen handele sich auch nicht um keine plötzlich eingetretene Situation, in der sich das Kind reflexhaft für eine bestimmte Handlung entschieden habe (vgl. BGH, Urt. v. 29.04.1997 - VI ZR 110/96 - Insektenabwehr mit Messer; BGH, Urt. v. 27.01.1970 - VI ZR 157/68 - Nachlaufen hinter einem Ball). Das Verkehrsgeschehen sei zum Unfallzeitpunkt ruhig und überschaubar und von nur wenigen Fußgängern geprägt gewesen. Es habe keinen motorisierter Verkehr, Fahrradfahrer oder Inlineskater gegeben. Eine Überforderungssituation mit der Folge eines (möglichen) Augenblicksversagens habe nicht bestanden. Ein Mitverschulden der Klägerin bestehe nicht. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, der Kollision zu entgehen.
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung des Anschaffungspreises für ein neues Handy. Auf den Hinweis des Oberlandesgerichts, dass für die Behauptung, das Handy sei bei dem Unfall irreparabel beschädigt worden, die Anschaffungsrechnung nicht ausreiche, hat die Klägerin keine weiteren Beweisangebote dargebracht, so dass sie diesbezüglich beweisfällig geblieben sei. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf die von ihr gezahlte gesetzliche Eigenbeteiligung i.H.v. 90 Euro für die neun Tage, die sie stationär in der Klinik verbrachte. Denn die Klägerin müsse sich ersparte Aufwendungen für häusliche Verpflegungskosten in gleicher Höhe entgegenhalten lassen. Diese schätzt das OLG Celle gemäß § 287 Abs. 1 ZPO auf mindestens 10 Euro pro Tag.
Die Klägerin habe einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld. Das OLG Celle erachtet angesichts der von der Klägerin erlittenen Verletzungen und Schmerzen einen Betrag i.H.v. 6.000 Euro für erforderlich, aber auch ausreichend. Das Oberlandesgericht hat sich insoweit vergleichend an der Rechtsprechung orientiert. Der Maßstab für die billige Entschädigung i.S.v. § 253 BGB müsse unter Berücksichtigung ihrer Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion für jeden einzelnen Fall durch Würdigung und Wägung aller ihn prägenden Umstande neu gewonnen werden. Die Klägerin habe ferner einen Anspruch auf Feststellung gemäß § 256 Abs. 1 ZPO, dass die Beklagte verpflichtet sei, sämtliche künftige Schäden aus dem Vorfall zu ersetzen, weil aufgrund der Fraktur des Sprunggelenks Spätschäden möglich seien. Sie habe insoweit nachvollziehbar vorgetragen, dass sie eine vorzeitige Arthrose in dem betroffenen Fuß befürchte.
Die Klägerin habe keinen Anspruch gemäß § 832 BGB gegen die ebenfalls beklagten Eltern. Sie haben ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt. Grundsätzlich richte sich das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige zum einen nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung danach bestimme, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Zum anderen komme es auf die Gefährlichkeit des jeweiligen Verhaltens und die Schadensgeneigtheit des jeweiligen Umfeldes an, also auf das Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren, die von der konkreten Situation für Dritte ausgehen. Kinder müssten dabei über die Gefahren des Straßenverkehrs frühzeitig belehrt werden. Sie müssten, insbesondere was das Radfahren betreffe, behutsam in den Straßenverkehr hineingeführt werden. Eltern müssten ihre Kinder langsam daran gewöhnen, sich auf die vielfältigen Gefahren einzustellen und ihr Verhalten danach zu steuern. Die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen und umsichtigen Verhalten im Verkehr sei allerdings nur möglich, wenn ein Kind andererseits auch altersgerecht angepasste Gelegenheiten bekomme, sich ohne ständige Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren (BGH, Urt. v. 07.07.1987 - VI ZR 176/86; OLG Koblenz, Beschl. v. 21.01.2009 - 12 U 1299/08). Die Erziehung der Kinder zu verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmern liege auch im Gemeinschaftsinteresse und sie sei insoweit nicht in dem Sinn der Alleinverantwortung der Eltern unterworfen, dass diese stets „für ihre Kinder“ haften müssten. Nach diesen Maßstäben sei es nicht zu beanstanden, dass die Eltern die Beklagte auf der Promenade mit dem Fahrrad fahren ließen, während sie selbst – ihre Fahrräder schiebend – in einigem Abstand folgten. Die Tochter war mit den Verkehrsregeln vertraut und bewegte sich bereits seit ihrem fünften Lebensjahr mit dem Fahrrad im Straßenverkehr. Die Eltern hielten Sicht- und Rufkontakt, der befahrene Weg war ausreichend breit, motorisierter Verkehr war nicht zu erwarten. Es handelte sich um eine sehr übersichtliche Gesamtsituation. Unter diesen Umständen sei die Entscheidung, die Beklagte mit dem Fahrrad vorfahren zu lassen, nicht zu beanstanden. Denn ein altersgerecht entwickeltes Kind brauche gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen, die sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1 und 1626 Abs. 2 BGB ergeben (OLG Hamm, Urt. v. 16.09.1999 - 6 U 92/99).
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